Töbu (der Hauptentwickler von veganaut.net) hat mir empfohlen, das Buch UX for Lean Startups. Faster, Smarter User Experience Research and Design von Laura Klein zu lesen. Ich hab’s gemacht. Was mir dank dem Buch klarer geworden ist: Projekte wie veganaut.net machen mehr Sinn & Spass und weniger Sorgen, wenn man sie als fröhliches Hypothesen-Testen versteht.
Wie meinen? – Ich versuch’s zu erklären.
- Bei der (Weiter-)Entwicklung von veganaut.net mach(t)en wir immer sehr viele Annahmen.
- Viele dieser Annahmen sind falsch.
- In der Vergangenheit haben wir oft viel zu viel Aufwand betrieben, bis wir gemerkt haben, dass unsere Annahmen falsch waren, und diese Erkenntnis war immer mit eigentlich unnötigen negativen Gefühlen und Stress verbunden.
Ein Beispiel: Es war einmal, da dachten wir, dass die User*innen in Restaurants und Läden aktiver nach veganen Angeboten fragen und mehr Infos auf veganaut.net eintragen würden, wenn sie einem von fünf konkurrierenden Teams angehören täten. Aufgrund dieser Annahme haben wir veganaut.net in monatelanger Arbeit (Planung, Design, Programmieren) zu einem Spiel mit fünf Teams umgestaltet. Dann veröffentlichten wir dieses Ding und mussten nach einer Weile feststellen, dass die Leute nicht wirklich an diesem Spiel mit den Teams interessiert sind. (Hier kannst du nachlesen, wie ich mir das damals schöngeredet habe.)
Etwas gelernt? Naja. Wir dachten dann: OK, machen wir das Ganze halt ohne Teams. Also bauten wir Veganaut um zu einem Spiel, in dem sich die einzelnen User*innen konkurrieren. Auch dafür haben wir wieder monatelang gearbeitet. Und jetzt, ein Jahr nachdem diese Version veröffentlicht wurde, müssen wir uns eingestehen: Die Leute interessiert auch dieses Spiel nicht. Sie tragen deshalb nicht mehr Infos auf veganaut.net ein, und fragen in Restaurants und Läden auch nicht aktiver nach veganen Angeboten.
So viel Aufwand, und wofür? Nun, nicht ganz für nichts. Wir wissen jetzt wenigstens, dass unsere Annahmen falsch waren. Aber, und das ist einer der wichtigsten Punkte aus dem UX-Buch von Laura Klein:
- Wenn man sich seine Annahmen im Voraus bewusst macht und es darauf anlegt, sie zu falsifizieren, kann man oft relativ schnell & günstig herausfinden, ob sie (wahrscheinlich eher) falsch oder (wahrscheinlich eher) richtig sind.
“Relativ schnell & günstig” heisst hier insbesondere: schneller und günstiger, als so, wie wir das bis jetzt jeweils herausgefunden haben. Man muss also auf seiner Veganplatform nicht unbedingt ein technisch funktionierendes Onlinespiel bauen, um feststellen zu können, dass dieses Spiel so kaum jemanden interessiert. – Gut zu wissen fürs nächste Mal.
“Relativ schnell & günstig” heisst aber nicht, dass es keinen Aufwand braucht. Es braucht jedenfalls mehr Aufwand, als sich einfach zu sagen: “Doch, doch, diese Annahmen scheinen OK.” Und es reicht auch nicht, wenn man sich die getroffenen Annahmen von anderen bestätigen lässt.
Bevor wir die Umsetzung einer neuen Version von veganaut.net in Angriff nahmen, haben wir z.B. immer einige (potentielle) User*innen gefragt, wie sie die gaplanten Änderungen fänden, und ob sie sich vorstellen könnten, das so zu benützen, wie wir es uns vorgestellt hatten. Dabei versuchten wir aber nicht wirklich, unsere Annahmen zu falsifizieren. Oft versuchten wir eher, uns Mut zu machen, dass es schon wie geplant funktionieren würde. Wir suchten viel fleissiger nach Gründen, warum wir mit unseren Annahmen richtig liegen, als nach Gründen, warum wir damit falsch liegen. Das ist dumm. Wir sind dumm.
Und weil wir dumm sind, ist es gut, wenn wir uns auch diesen Punkt aus Laura Kleins Buch hinter die Ohren schreiben:
- Zu prüfen sind v.a. die Annahmen, die die Erreichung unserer eigentlichen Ziele betreffen.
Es ist z.B. gar kein Ziel von uns, auf veganaut.net ein lustiges Onlinespiel anzubieten. Wir dachten früher, dass ein lustiges Onlinespiel ein gutes Mittel wäre, um die Leute dazu zu bewegen, auf veganaut.net mehr Infos über vegane Angeboten einzutragen und in Restaurants und Läden öfter nach veganen Angeboten zu fragen. – Können wir die Leute nicht dazu bewegen, haben wir unser Ziel verfehlt, egal ob wir auf veganaut.net ein beliebtes Onlinespiel hosten oder nicht. D.h. anstatt in den Versuch, ein lustiges Onlinespiel zu machen, hätten wir unsere Energie direkt in die Frage stecken sollen, wie wir die Leute dazu bringen können, mehr Infos einzutragen.
Dabei ist das Sammeln von Infos über vegane Angebote auch wiederum bloss ein Mittel, und nicht unser eigentliches Ziel. Die auf veganaut.net gesammelten Infos sind nämlich nur wertvoll, wenn sie vegan-interessierte Menschen über Angebote informieren, die es ihnen erleichtern oder ermöglichen, vegan zu leben. Und auch das stimmt nur unter der Annahme, dass die Menschen, die sich auf veganaut.net informieren, ohne veganaut.net nicht gleich effizient oder sogar effizienter informiert worden wären. D.h. falls eines Tages z.B. die künstliche Intelligenz von Google vegan-interessierte Menschen effizienter über vegane Angebote informiert als veganaut.net, können wir mit dem Sammeln von Infos aufhören – es sei denn, wir glauben, open-source und open-data seien wichtig, und zwar unabhängig von den eben angesprochenen Effizienzüberlegungen. (Wir glauben das tatsächlich.)
So oder so bringt das alles nur etwas, wenn das Erleichtern einer veganen Lebensweise tatsächlich – wenn auch über viele Zwischenschritte und zusammen mit unzähligen anderen Einflussfaktoren – zu einer gerechteren und friedlicheren Welt für alle Tiere (die menschlichen und die nicht-menschlichen) beiträgt, einer Welt, in der die einzelnen Tiere freier und glücklicher sind und in der auch kommende Generationen noch eine lebensfreundliche Umwelt vorfinden. Das ist nämlich unser eigentliches Ziel.
Laura Klein macht es sich im UX-Buch ein bisschen einfacher. Wenn sie vom eigentlichen Ziel spricht, meint sie i.d.R. den finanziellen Erfolg eines Privatunternehmens. Unausgesprochen liegt dem vielleicht die Annahme zugrunde, dass die Welt am Kapitalismus genesen wird, oder dass die Welt zur Hölle gehen kann, solange irgendwelche Tech-Startups noch Kohle machen können. Ich weiss es nicht. Für Laura Klein sind diese grundlegenderen Annahmen offenbar nicht der Rede wert. Und auf eine Art ist das verständlich.
Annahmen sind zwar um so wichtiger, je grundlegender sie sind, sie sind aber auch umso schwieriger zu überprüfen. Wird die Welt am Kapitalismus genesen? Ich glaube es nicht. Aber um meine Meinung sauber zu belegen, müsste ich Geschichte, Volkswirtschaft, Statistik und wahrscheinlich noch einiges mehr studieren und mich dabei auf jahrzehntelange Arbeit von hunderttausenden Wissenschaftlerinnen abstützen. – Ist es gut für die Welt, wenn mehr Menschen vegan leben? Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Antwort darauf Ja ist. Aber diese Sicherheit habe ich letztlich wiederum nur dank der Arbeit von hunderttausenden Agronominnen, Ökologen, Verhaltensforscherinnen, Psychologen, Ärztinnen usw.
Im Unterschied dazu: Bewegt dieses neue Feature die User*innen dazu, mehr Infos auf veganaut.net einzutragen? – Um das zu beantworten, brauche ich die internationale Wissenschaftsgemeinschaft nicht. Es macht deshalb durchaus Sinn, wenn sich Laura Klein im Buch eher auf solche vergleichsweise trivialen Fragen konzentriert.
Die meisten unserer Annahmen, v.a. die höherstufigen, wie z.B., dass mehr vegan lebende Menschen gut für die Welt sind, überprüfen wir im Rahmen von veganaut.net nicht. Wir arbeiten einfach mit ihnen und versuchen, dafür offen zu bleiben, dass sie sich vielleicht einmal als falsch erweisen. Daneben gibt es aber viele Annahmen, v.a. die niederstufigeren, die wir relativ leicht testen können. Und die wollen wir bei der Weiterentwicklung von veganaut.net in Zukunft möglichst konsequent testen, und zwar im Voraus .
Z.B. wollen wir in Zukunft keine neuen Features mehr entwickeln, wenn wir uns nicht im Voraus
- die Annahmen bewusst gemacht haben, aufgrund derer wir denken, dieses Feature lohne den Entwicklungsaufwand, und
- ernsthaft versucht haben, diese Annahmen zu falsifizieren, ohne dass uns das gelang.
Z.B: (Wie) sollen wir ein Feature hinzufügen, das es den User*innen erlaubt, die Locations auf der Karte nach den verschiedenen Angebots-Tags (“Mittagessen”, “Brunch”, “Schuhe”, “Pflegeprodukte”) zu filtern? – In der Vergangenheit hätten wir einfach gedacht: Ja, das tönt nach einer guten Idee. Und dann hätten wir’s gemacht, und dann vielleicht gemerkt: Dieses Feature braucht gar niemand, obwohl es doch so gut klingt.
In Zukunft machen wir’s stattdessen vielleicht so: Irgendwo bei der Karte tun wir einen Knopf hin, auf dem steht “Wo gibt’s veganen Brunch?” (oder “…vegane Pflegeprodukte?”). Dieser Knopf macht aber nichts, ausser, dass er uns sagt, wie oft er gedrückt wurde (auch so einen Knopf zu programmieren, ist übrigens aufwändiger, als ich gedacht hätte). Und wenn wir dann sehen, dass er oft gedrückt wird, testen wir vielleicht weiter, was denn die Leute, die diesen Knopf drücken, genau für Infos erwarten, und ob wir die zuverlässig liefern können. Erwarten sie z.B., dass wir ihnen nur Locations anzeigen, die jetzt Brunch anbieten?
Wären sie zufrieden, wenn wir ihnen sagen: “Hier siehst du die Locations, an denen es manchmal Brunch gibt, aber ob sie jetzt Brunch anbieten oder überhaupt geöffnet haben, musst du für jede Location einzeln überprüfen.” Wären sie zufrieden, wenn wir ihnen das nicht sagen, sie dann aber eine dieser Locations besuchen und dort dann gar keinen Brunch erhalten, weil’s dort halt nur 1x im Monat Brunch gibt? Und falls sie weder das eine noch das andere zufriedenstellt, müssen wir irgendwie herausfinden, ob und wie wir die Informationsdichte und -qualität auf veganaut.net zuverlässig erhöhen können. Und wenn es scheint, als ob wir’s nicht könnten, dann implementieren wir das Feature “Karte nach Locations filtern, an denen es veganen Brunch gibt” nicht, auch wenn’s noch so gut tönt.